German Reviews


Die morawische Nacht is a boat, perhaps once a hotel, moored at one point or another on the River Morava, the home of the ex-author, an alter(and sometimes not soalterego of the writer Peter Handke. On this boat there arrive one night friends from various stages of the ex-author’s life and career. They listen to the stories he has to tell, sometimes interrupting, sometimes taking up the narrative themselves. Also on board is a mysterious and beautiful woman – are she and the ex-author a couple, or are they not? – who also takes part in the storytelling. The story of the night involves a journey, a long circling movement from an enclave that might be Kosovo, through Europe and back to its starting point. The journey takes perhaps months, perhaps much longer, and on the traveller’s return the enclave no longer exists, or at least it is no longer an enclave of the old Balkans. In other words the author, Peter Handke, is saying goodbye to ‘his’ Balkans, ‘his’ Yugoslavia, as a place.
Starting on a battered bus in a Balkan bus station, and taking in Spain, a spa town in the Harz Mountains, and Austria, where the ex-author was born, this journey is enlivened by some wonderful – and also some very odd – scenes. In an inn, The Inn of the Nameless, close by the Cemetery of the Nameless (which does exist) the ex-author makes acquaintance with The World Congress of Jew’s Harp Players. Arriving at last at his native village he finds himself, like Odysseus, unrecognized – even his brother’s dog at first bares its teeth. But in the end, after a night full of dramatic meetings, even violence, comes reconciliation.
Handke, it can be argued, is one of the defining writers of our time, but it’s years since a UK publishing house put out anything by him, and that neglect predates his defiant, obstinate defence of the former Yugoslavia which ended with him more or less condoning Milosevic. If he’s mentioned at all in the British arts supplements it’s as the writer of the film Wings of Desire. YetDie morawische Nacht is a haunting and wonderful book indeed. Time to bridge the gap?

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Mit gleich drei neuen Büchern meldet sich Peter Handke zurück: mit Gedichten, Essays und einer sprachmächtigen, panoramatischen Erzählung, in der viel Autobiografisches aufscheint - ironisiert und verwirbelt als nächtliche Performance eines Autors wider Willen, der vom Schreiben und vom Leben erzählt.
In Ihrem „Selbstportrait aus unwillkürlichen Selbstgesprächen“ stehen einzelne Sätze, Assoziationen, Anrufungen, die mir sehr gefallen haben. Lassen Sie mich gelegentlich ein paar dieser Sätze zitieren?
Zum Beispiel?
„Immer wird dich die Einsamkeit nicht verwöhnen“.
Ah, Sie wollen hoffentlich keine Interpretation von mir.
In Ihrer neuen Erzählung „Die Moldawische Nacht“ ist einmal die Rede von den „von Natur aus Alleinigen, Alleinseinsidioten, Alleinseinswahnsinnigen.“ Ist Alleinsein für Sie die beste aller Lebensformen?
Grad heute früh habe ich gedacht: Im Grunde bin ich ein Familienmensch. Es kommt nur auf die Familie an, wie man mit ihr umgeht und wie man den richtigen Abstand gewinnt. Mein Ideal war, beides zu verbinden - was eigentlich ziemlich hirnrissig ist: zu meinen, dass man das Schreiben und Kinder verbinden könnte; oder - verbinden ist nicht das Wort - dass beides parallel geführt werden könnte. Es kann sein, dass ich damit gescheitert bin, aber ich bin nicht einmal sicher. Sonst hätte ich wenigstens eine Gewissheit im Leben.
Sie sind ja noch nicht am Ende Ihres Lebens angekommen.
Wer weiß (lacht).
Es gibt eine gewisse Frauenphobie in Ihrer neuen Erzählung. Und einen vitalen Fluchtinstinkt des Autors und Helden.
Doch, ja, es ist eine Phobie, sicher. Ich glaube, ich habe sie noch nie so selbstkritisch erzählt wie dieses Mal. Aber wenn es so klar wäre, würde ich es ja nicht erzählen, sondern würde es nur hinstellen. Ich habe es aber erzählt.
„Ohne Begehren: auch nichts.“
Na, da ist manchmal ein Satz, der einen so anfliegt, und dann findet man den zugleich blöd und seltsam. Oder nehmen Sie den hier: „Ohne Frau ist es natürlich besser, aber falsch.“
Ist die Abwesenheit von Unglück besser als ein gefährdendes Glück?
Sie sehen das natürlich richtig.
Man kann sich doch eigentlich gar nicht dafür oder dagegen entscheiden, oder?
Na, eben nicht. Es ist halt ein typisches Selbstgespräch (lacht).
Schließen eine intensive Beziehung zu einer Frau und das Schreiben einander aus?
Ja, wer sagt denn, dass der Autor in der „Morawischen Nacht“ nicht mehr schreibt? Am Ende stellt sich etwas anderes heraus. Er hält sich für einen Schreibverweigerer und hat dennoch wie absichtslos ein Buch geschrieben.
Es ist ein Traum. Er hat eine Nacht lang etwas geträumt, woraus die lange Arbeit der Erzählung und das Buch entstanden ist. Aus dieser einen Nacht werden viele Tage der Arbeit.
Ist das auch Koketterie? Die Möglichkeit des Nicht-Schreibens zumindest als Gedankenspiel in Betracht zu ziehen?
Nach den fast vierzig Jahren, die ich jetzt mit diesem herrlichen Beruf verbringe, kommt schon manchmal der Gedanke: Jetzt hast du alles sanft und kräftig umrissen, was du zu umreißen hattest im Leben. Jetzt geht es darum, es zum Auszuklingen zu bringen. Das hat nichts mit Koketterie zu tun. Das entsteht aus der Psychophysik, wie ich das nenne. Es kommen Fragen wie: Was willst du jetzt noch? Du wirst doch nicht um Gottes Willen auch noch eine Autobiographie loslassen? Ich habe schon noch etwas vor, aber ich glaube, „Die morawische Nacht“ war das letzte wirklich epische Unternehmen, in dem ich von einem Problem erzählen wollte: Was ist Schreiben? Was ist Lesen? Was sind Worte? So weiträumig, glaube ich, hat vielleicht nie vorher jemand diese Fragen bearbeitet.
Wenn Sie wüssten, dass Sie in den nächsten zehn Jahren keine Zeile mehr schreiben, würden Sie anders durchs Leben gehen, weil sie nicht unwillkürlich die literarische Botanisiertrommel dabei haben?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist schon so, wie Goethe es gesagt hat – Schreiben ist Schmerz und Freude. Es ist für mich immer noch ein Tabu. Bevor ich mich an den Tisch setze, habe ich jeden Tag auch Mulmigkeit und Bangigkeit zu überwinden, bis ich mich dann endlich hinbequeme – ich gebe mir regelrecht einen Tritt. Andererseits: Wenn ich dann an dem Tisch sitze, kommt oft eine große, ungeheure Ruhe über mich, und ich denke: Ja, jetzt bin ich an meinem Platz, jetzt mache ich mich leben und vielleicht dichten.
Es ist schwer vorstellbar, dass Sie diesen Platz freiwillig verlassen könnten.
Ich bin kein besessener Schreiber. Ich bin nicht getrieben. Über Erich Fried habe ich einmal gehört, dass er noch in der Agonie die Bewegungen ausführte, ein Blatt Papier zu bekritzeln. Mit Buchstaben, die nicht mehr leserlich waren. Dass er noch in diesem Zustand seine täglichen vier, fünf Gedichte geliefert hat, erfüllt mich mit Entsetzen. Ich möchte zu meinem Buch des Lebens kommen, das ich schreibe, weiterschreibe - ohne zu schreiben. Dass sich sozusagen alles, was ich geschrieben habe, im Wind und im Himmelblau und im Grün von diesem und jenem fortsetzt, ohne dass das Schreiben mir fehlt. Das wäre ein Ideal. Auch ohne zu schreiben, wäre ich immer noch der Schreiber.
Der vermeintliche „Autor-in-Ruhe“ in Ihrer Erzählung begegnet unter anderem einem Journalisten, der ihn wegen seines immer noch existenten Autorennimbus beneidet - und ihn verhöhnt.
Ja, die Figur des Autors ist ein bisschen gebrochen durch einen Journalisten, der sich belustigt über die Art des Schriftstellers oder Ex-Schriftstellers. Ich wollte das bewusst brechen, wollte den Schriftsteller schief gesehen werden lassen durch jemand anderen, der ihm nicht gut gesinnt ist, sodass wiederum der Leser sich seinen Teil denken kann.
Der erste Satz Ihrer „Selbstgespräche“ lautet: „Hier fließt das Wasser – was soll ich woanders?“, geschrieben wurde er an der Morawa, in Cuprija, am 27. April 2006. Auch Ihre Erzählung spielt an der Morawa. Sind Sie in letzter Zeit da gewesen?
Der Balkan ist ein Land der Flüsse, und mir ist das Flussland sehr nahe. Ich erkläre das immer mit einer Banalität: Ich bin Schütze, ein Feuerzeichen, wie man sagt, und ich habe Wasser nötig, fließendes Wasser, das tut mir gut. Dies ist eine hanebüchene Erklärung, die ich an den Haaren herbeigezogen habe.
Hört sich ganz danach an. Der Autor der Erzählung sucht das Balkanische auf einer Reise quer durch Europa – nachdem er es an der Morawa zurückgelassen hat. Was ist dieses Balkanische? Suchen auch Sie es?
Ja, das Balkanische zieht mich an - das Unregulierte. Diese ganze begradigte, gesäuberte Welt, in der wir wie im Film leben - ich rede jetzt nicht von einer Vorliebe zu umgestürzten Mülltonnen – ist deprimierend. Das spricht doch nicht zur Seele. Wenn Sie aber eine Grube mit Schlamm sehen, und es liegt ein Schuh drinnen, so ist das sicher etwas Trauriges. Es könnte zum Beispiel der Schuh eines Geflüchteten sein. Jedenfalls stachelt solch ein Anblick dazu an, die Wirklichkeit zu erforschen. Ich will ja nicht den Balkan mythologisieren, um Gottes Willen. Balkan ist überall, und Balkan kann furchtbar sein, doch Balkan kann auf der anderen Seite auch eine Glocke anschlagen, eine Erfahrung, durch die das innere Auge sich aufschlägt. Und das innere Ohr endlich zu hören beginnt. Das ist eine große Glocke, die aus vielen kleinen Gegenständen besteht.
Es gibt mehrere Szenen, noch in der Nähe der Morawa, in denen der Bus des Reisenden von Kleinkindern mit Steinen beworfen wird. Schon im „Bildverlust“ gab es Szenen mit steinewerfenden Kindern.
Kann sein, kann sein, dann wiederhole ich mich – nicht zu fassen.
Das Bild scheint vielmehr immer noch präsent zu sein. Ist das auch heute Ihre Erfahrung im Kosovo? Dieser Hass, der den Kindern mit der Muttermilch eingegeben wird?
Das ist gleich geblieben. Nur im Moment werden wahrscheinlich aus bestimmten Gründen - ich muss jetzt lachen - die Kinder in die Häuser gesperrt, damit sie ein bisschen abwarten mit dem Steinewerfen. Damit ist ja gar nichts gegen ein  bestimmtes Volks gesagt. Es ist nur eine gewisse Traurigkeit da, dass Eltern und Großeltern es nicht schaffen, den Hass abzuwenden, sodass schon in den Zweijährigen dieser Steinwurfdrang steckt, der, scheint es, geduldet wird.
Sehen Sie kein Zeichen der Normalisierung im Kosovo?
Jetzt fragen Sie mich politisch, und was die aktuelle Politik betrifft, fühle ich mich nicht zuständig.
In der Erzählung wird geschildert, dass die Serben in ihren Enklaven wie in Gefängnissen leben. Dass sie ihre Felder nicht bestellen können, ohne beschossen zu werden, dass sie ihre Toten im Dorf begraben müssen, weil die Gräber außerhalb der Dorfmauern zerstört werden. Das klingt nicht gerade nach Normalität.
Ich kann sicher sein, und Ihr Wort in Gottes Ohr, dass es sich normalisiert - was auch immer „normalisiert“ bedeutet...
...ein für alle erträglicher modus vivendi unter Bedingungen, die diktiert wurden und daher auch problematisch sind.
Tragisch bleibt auf jeden Fall, was geschehen ist und was geschehen soll. Die Tragödie wird weitergehen. Sie wird nur ihre Gewichte verlagern. Und das scheint das Gesetz der Geschichte zu sein, zumindest auf dem Balkan.
Fahren Sie regelmäßig hin?
Natürlich, ja, so zwei-, dreimal im Jahr. Ich möchte mehr allein sein. In den letzten Jahren bin ich immer häufiger allein dort gewesen und sehr viel gewandert. Es gibt einen Bergzug in der Nähe von Belgrad, Fruška Gora, wo sehr viele Klöster sind, und dann gibt es eine Landschaft in der Mitte Serbiens, die einen sehr schönen Namen hat: Sumadija. Suma ist das serbische Wort für Wald. (Anmerkung: Auf dem S muss ein kleines v-Zeichen stehen) Dort bin ich sehr oft gewandert und habe viel erlebt, was nicht schlimm war.
Was nicht schlimm war?
… was halt das Leben war – Bilder, Bildchen, wie die Griechen deshalb sagen: eidola, kleine Bildchen, die am meisten bewirken, nicht die Bilder im Fernseher. Ich könnte noch tausend Dinge erzählen, aber lassen Sie uns nicht so sehr auf ideologisches Terrain gehen.
Beobachten Sie dort gern Menschen?
Ich beobachte nicht.
Nein?
Für mich ist Schauen Zufall. Aber Schauen ist das Erste, womit man sich die Welt erobert. Durch Anschauung wird man Welteroberer. Ich verwende gern das arabische Wort „Mushahada“. Das ist es: Aus der Anschauung entsteht alles.
In der „Morawischen Nacht“ wird über die Menschen im Kosovo gesagt, dass sie dieses Schauen verlernt hätten.
Ich habe keine Ahnung, weil ich mich an vieles, was ich wahrscheinlich geschrieben habe, nicht mehr erinnere.
Es geht dabei um einen Verlust, darum, dass eine gewisse Art von Hinschauen verschwindet, das zuvor offenbar ein Charakteristikum der Menschen des Balkan war, etwas typisch „Balkanesisches“, wie Sie schreiben….
… sagen Sie ruhig „balkanesisch“, natürlich. Und das ist ja nicht nur ein Balkan-Phänomen. Es ist auch mein eigener Mangel: Ich bedauere es, wenn ich am Tag nicht „ins Schauen gekommen bin“, wie die deutsche Sprache so schön sagt: „Ich bin gegangen und ins Schauen gekommen.“ Und dann wieder aus dem Schauen, da sagt die deutsche Sprache: „Ich bin aus dem Schauen nicht mehr heraus gekommen.“ Das wäre ein Ideal, nicht wahr? Aber so gesund bleibt man nicht bis zum Tode.
Dieses Schauen hat etwas Entgrenztes, so wie Sie es in Ihrem „Versuch über die Müdigkeit“ beschrieben haben, eine Absichtslosigkeit.
Nur so geht es, es gibt ja nicht umsonst den Spruch: Man merkt die Absicht und  ist verstimmt. Schauen Sie, das ist ganz praktisch. Wenn ich in den Wald gehe, ich sage immer „in die Wälder“, denn es gibt so verschiedene hier rund um Paris, dann komme ich leicht in Versuchung zu suchen – das ist ein blödes Wortspiel -, und das schränkt mich ein, dieses Suchen.
Was suchen Sie?
Ob das nun Pilze oder Beeren sind oder eine Falkenfeder, oder überhaupt eine Feder, vielleicht eine Rabenfeder, die blau schillert.
Sie leben seit vielen Jahren hier in Chaville, der Balkan aber scheint für Sie eine ungeheure Magie zu haben.
Ja, die Loire hätte mich vermutlich nicht auf den Fantasiesprung gebracht. Nehmen Sie allein schon das Wort „Morawa“ und „Die morawische Nacht“ – sehr viel hängt ja vom Klang der Silben und auch von Namen ab. Hinzu kommt: Ich kenne die Flusslandschaft der Morawa sehr gut, ich habe sie nicht gerade „durchwandert“, das ist ein furchtbarer Ausdruck, aber ich bin viel hin und her gereist in dieser Landschaft. Das hat mich sehr gereizt. Es ist mir fremder, es ist unzivilisierter, ruppiger, als Landschaft, aber auch als Menschentum. Schon in meinem ersten Buch „Die Hornissen“ steht: „Heiß macht ihn immer, was er nicht weiß.“ Also nicht: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Nein, umgekehrt: „Was ich nicht weiß, macht mich heiß.“ Ich weiß zu viel von hier, vom westlichen Europa. Meine präzise Tagesfantasie, Tagtraumfantasie, was ja Schreiben ist, die gegliederten Tagtraumfantasien in mir, mit Fluggang in die Tiefe, können hier nicht entstehen.
Das Fremde lässt ihnen mehr Freiheit?
Was ich nicht weiß, kann ich erfinden. So habe ich es immer gemacht. All meine Bücher handeln ja in der Zukunft – den „Kurzen Brief zum langen Abschied“ habe ich mit 26 geschrieben, und in dem Buch feiere ich meinen 30. Geburtstag. „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ beginnt 1997, geschrieben habe ich das Buch 1993. Nur in der Geschichte von meiner Mutter, „Wunschloses Unglück“, habe ich etwas beschrieben, was war. Das fiel mir unglaublich schwer, mir kam es fast unliterarisch vor. Ich kann im Grunde nicht beschreiben, was war, nur in die Zukunft projizieren. Bei der Geschichte „Die morawische Nacht“ habe ich mir vorgestellt: Wie könnte es in zehn Jahren dort sein? Dort an der Morawa und auch anderswo ist nach dem Balkan-Krieg alles ein bisschen verschwommen. Das bringt mich auf die Sprünge.
Es fällt im Zusammenhang mit den Menschen dort auch das Wort Trotz. Trotz als letztes Refugium von Stärke, von Einstimmigkeit…
Trotz ist ein Wort aus der Türken-Zeit. Jetzt muss ich doch einmal das Wort „Serben“ aussprechen, das ich in dem ganzen Buch vermieden habe: Der Trotz ist ein Überbleibsel der Oberherrschaft der Türken über die Serben. Vierhundert Jahre lang hat diese Herrschaft gedauert. Das Wort „Inat“, Trotz, ist ein türkisch-arabisches Wort. Die Türken haben das von ihnen unterdrückte und objektiv beherrschte Volk ein Volk des „Inat“, des Trotzes genannt. Und die Serben - das ist das letzte Mal, dass ich das Wort „Serben“ benutze - die Serben haben das dann umgedreht und gesagt: Ja, wir sind die Macht, wir sind das trotzige Volk.
Sie haben aus der Beschimpfung eine Tugend gemacht.
In diesem Sinne, ja. Vor fünfzehn Jahren, als es zu den Kriegen kam, haben die westlichen Medien von diesem „Inat“ gehört und es wiederum umgedreht. Nun wurde es wieder in der ersten, ursprünglichen Bedeutung verwendet, die es während der Türken-Herrschaft hatte. Es ist eine interessante Geschichte. Ein schönes Wort – „Inat“. Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihn Inat nennen.
Warum verwenden Sie das Wort „Serben“ so vorsichtig? Sind Sie dieser ganzen Diskussion müde?
Ich war der Diskussion schon von Anfang an müde. Ich wollte nie diskutieren, ich wollte einfach darstellen, was es dort noch anderes zu sehen gibt - etwas, das vielleicht genauso bezeichnend ist, oder: anders zu bezeichnen ist.
Das heißt, Sie ziehen sich jetzt aus der Debatte zurück?
Na, Frau Eichel, ich habe vor ein paar Tagen der spanischen Tageszeitung El Mundo ein Interview gegeben, das geharnischt war, was den Kosovo betrifft. Wenn es um so etwas geht, dann können Sie von mir schon Überraschungen erwarten. Nicht nur, wenn ich getrunken habe: Da hatte ich keinen Tropfen gesehen, aber schon ordentlich losgelegt.
Der Zorn ist noch da?
Die eigentliche Debatte hat es ja nie gegeben. Wenn es sein müsste, würde ich noch härtere Worte und Wörter gebrauchen. Aber der Zorn kommt und geht. Was bleibt, ist die Wut. Die deutsche Sprache sagt nicht umsonst: „Der Zorn verraucht.“ Stimmt. Der Zorn verraucht, aber das Feuer bleibt (lacht).
„Früh irrt sich, wer ein Meister werden will.“ Muss man sich erst einmal irren, um ein Meister zu werden?
Ja, das ist ein präsokratischer Satz und mehr als nur ein dummes Wortspiel. Wenn ich jemals eine Autobiographie schreibe, dann unter dem Gesichtspunkt, dass ich alle meine Irrtümer, alles, was ich falsch gesehen, falsch gehört, auch verwechselt habe, benenne. Aus diesem Mich-geirrt-haben in einem Blick oder einem Geräusch sind oft erst die richtigen Blicke entstanden. Ich habe manchmal etwas Falsches geschrieben, also etwas, was den Tatsachen nicht entspricht – dieser Baum sieht so und so aus, oder dieser Apfel so und so, diese Augen haben diese und diese Farbe. Im Nachhinein dann, als ich wieder vor dem Baum oder vor dem Apfel oder vor diesen Augen mich befand, habe ich gesehen, dass ich mich geirrt hatte. Und in diesem Moment erst habe ich wirklich etwas gelernt. Es gibt ja das berühmte Prinzip des „trial and error“. Es ist einer der schönsten Vorgänge, zu sehen, wie etwas wirklich aussieht, wenn man sich zunächst einmal geirrt hat.
Sind Fehler unerlässlich?
Ja, zum Beispiel falsch anzufangen. Als ich die Geschichte „Der kurze Brief zum langen Abschied“ schrieb, war das eine Zeit, als das Erzählen eigentlich lächerlich geworden war, „obsolet“, würde man heute sagen. Nach all den Jahren kann man sich das kaum noch vorstellen. Und ich habe angefangen mit dem Satz: „Die Jefferson Street ist eine stille Straße in Providence. Als ich Ende April dort ankam...“ – dann habe ich gedacht: Das geht doch überhaupt nicht!
Es wirkte sicher provozierend konventionell...
Ich dachte: Das ist ja total falsch! Aber gerade, indem ich weiter machte mit diesem Falschen, habe ich vieles entdeckt. Wenn ich „richtig“ angefangen hätte, wäre ich nie darauf gekommen. Durch das falsche Anfangen bin ich zu einem richtigen Ende gekommen, zum wahren Ende, zum wahrhaftigen. Hätte ich richtig angefangen, wäre ich nirgends hingekommen, oder ich hätte, was noch schlimmer gewesen wäre, falsch aufgehört. Mir kommt es heute so vor, dass sehr viele Bücher richtig anfangen, aber völlig falsch aufhören. Das ist meine Doktrin, das können Sie als die Handke-Doktrin weitergeben: Man muss falsch anfangen!
Sind diese vermeintlich richtigen Anfänge auch eine Folge der modisch gewordenen Schreibschulen?
Ich denke, das ist das Entsetzliche daran.
Halten Sie das für eine zunehmende Amerikanisierung des Schreibens?
Ich habe überhaupt nichts gegen amerikanisches Schreiben, aber es ist der Tod des Schreibens, auf andere Weise. Es kommt nichts dabei heraus. Die Begabtesten bleiben zwar begabt, trotz dieser Schulen, aber sie machen halt nichts falsch. Die Absätze stimmen, der Rhythmus der Sätze ist richtig – aber wo bleibt das Stammeln, wo bleibt das Suchen, wo bleibt das Zittern der Sätze, das Abstürzen? Nur das ist Literatur. Ich merke sofort, nach drei, vier Sätzen: Ah, das zittert. Aber das geht mir nur noch sehr selten so. Einer der scheußlichsten Anfänge, die ich je las - ich habe nicht viel weiter gelesen - lautet: „Mein Vater war eine Sturzgeburt“. So begann eine österreichischen Schriftstellerin ihren Roman. Da habe ich gedacht: Wenn ich die erwische….
Verraten Sie mir, wie das Buch heißt?
Nein, ich sage nicht den Namen. Das ist keine Österreicherin. Ich habe gedacht: Die kriegt von mir was zu hören. Nein, diese Schule der Sätze und die Regeln, wie man etwa die Charaktere entwickeln soll, ist furchtbar. Kein Mensch, der wirklich Leser ist, interessiert sich noch für solche Charaktere. Lesen ist etwas viel Spannenderes, Lesen ist etwas Verschlungenes. Der Leser muss bereit sein, auf eine Expedition zu gehen. Es ist ein Unsinn zu sagen: „Dieses Buch verlangt aber Geduld!“ Nein, ein Buch, das wirklich ein Buch ist, erzeugt Geduld. Das ist das Herrliche an dem, was wahrscheinlich immer selten war, und das man Literatur nennt.
Für solch ein geduldiges Lesen braucht man möglicherweise auch kontemplative Zurückgezogenheit. Sie haben mal gesagt, dass das Lesen in der Öffentlichkeit eigentlich etwas Obszönes habe.
Ich saß einmal im Flugzeug nach Edinburgh, in dem alle Dan Brown lasen. Es waren alles alte Menschen. Und ich dachte: Schämt ihr euch nicht? Es war eine  greise Gruppe, die vermutlich gerade vom Vatikan kam und in Paris zwischengelandet war. Nein, ich habe kein Vertrauen zum öffentlich Lesen. In Frankreich ist das üblich, zum Beispiel in der Metro. Aber dann denke ich immer: Man kann nicht in der U-Bahn lesen, das geht nicht. Ich selbst konnte schon als Kind nie im Omnibus lesen, wenn ich von der Schule nach Hause fuhr. Außerdem wurde mir dann schwindelig dabei. Ich meine, was wird da gelesen? In einem Bestseller liest man ständig. Es muss ja auch nichts Schlechtes sein - ich will keine Polemik.
Im „Selbstportrait aus unwillkürlichen Selbstgesprächen“ hat man den Eindruck, dass „es“ permanent in Ihnen denkt und formuliert.
Ich habe keinen Formulierungszwang - was ja schon der Zusatz „unwillkürliche“ Selbstgesprächen zeigt. Ich werde davon angeweht, von innen oder von außen her, oder von beidem? Außerdem bin ich ziemlich trainiert über die Jahrzehnte, sodass ich kurz und knapp denke. Was ich da unwillkürlich gedacht habe, hat eine seltsame Form, ohne dass ich auch nur den Willen oder eine Formulierungsvorstellung hätte. Das notiere ich mir, und das tut mir gut. Ich finde diese Sätze manchmal vor wie eine Nachricht, und dann denke ich: Seltsam, diese Form oder diese Figur eines Satzes hat es noch nie gegeben. Es wäre schade, wenn das, was mich anfliegt, wieder von mir wegfliegt - und so wird es sacht festgehalten, ohne dass ich es gefangen nehme.
Es hat zuweilen eine skurrile Komik, wenn Sie in einen inneren Dialog mit den Dingen geraten, mit einer nahezu animistischen Wahrnehmung. - „Bist auch verhungert?“ (zu der toten Spinne, vertrocknet im eigenen Netz) - Empfinden Sie so etwas unwillkürlich?
Ja, das kommt vor, im Guten wie im Bösen, eben wie Sie es zitiert haben. Dass man ein Schuhband, das reißt, beschimpft, oder dass man eine Wolke duzt – es kommt vor, ohne dass man es will. Vielleicht ist das ein Überbleibsel aus der Kindheit, wo auch alles belebt scheint. Es kommt sogar vor bei diesen Selbstgesprächen, dass man sich selbst maßregelt und sich selbst beschimpft. Oder dass man in ein Zwiegespräch mit seinen Verstorbenen gerät. Was da tagsüber in einem vor sich geht, ist sehr seltsam. Im Grunde ist der Mensch noch längst nicht erforscht.
Haben diese sich unwillkürlich formenden Sätze entfernte Ähnlichkeit mit dem „stream of consciousness“?
Die Holzschnitte von Hokusai aus dem 19. Jahrhundert hießen „Bilder der flüchtigen Welt“, das war das Motto. Und im Grunde könnten all diese kleinen Sätze „Sätzchen der flüchtig Vorbeiziehenden“ heißen. Es ist überhaupt kein Ehrgeiz dahinter.
Ein Zwiegespräch betrifft Ihre Mutter: „Ja, Mutter.“ Oder: „Mutter, mache ich dir Schande?“
Das wird wohl seinen Grund gehabt haben. Es ist sicher eine Art Ahnenkult, den ich betreibe, ab und zu auch in der „Morawischen Nacht“. Aber dieser Ahnenkult ist materiell. Ich kann Inspiration, Materie und Form nicht trennen, so wie auch Materialismus und Spiritualismus für mich zusammen gehören. Deswegen ist das Christentum für mich eine Materie-Religion. Wenn jemand die Evangelien gelesen hat, wenn er selber aufmerksam ist auf sein Leben und das Leben anderer, wenn eine Wunde offen ist - dann wird er sehen, dass das Evangelium Materie ist. Und so ist auch mein mich gelegentlich anfliegender Ahnenkult Materie.
Sie haben sich intensiv mit der Bibel auseinandergesetzt…
Bevor ich hier in das Haus gezogen bin, habe ich die ganze Heilige Schrift, von Alpha bis Omega, auf griechisch gelesen. Ich habe lange Jahre griechisch gelernt und auch ein bisschen aus dem Altgriechischen übersetzt, Aischylos und Sophokles. Die Bibel habe ich dann Wort für Wort mit einem Wörterbuch gelesen – die Notizbücher dieser Jahre 1974 bis 1990 habe ich dem Literaturarchiv in Marbach gegeben. Die Bibel war eine Zeit lang mein täglich Brot. Das erste, was ich danach in diesem Haus geschrieben habe, war der „Versuch über den geglückten Tag“. Darin gibt es sehr viele Anspielungen auf meine Lektüre der Heiligen Schrift.
In Ihrem jüngst erschienen Gedichtband „Leben ohne Poesie“ gibt es ein Gedicht über die Verkündigung:
Der wunderbarste Raum
der wunderbarste Abstand
der wunderbarste Zwischenraum
ist der zwischen dem Engel der Verkündigung
und der jungfräulich Gebären-Sollenden:
Abstand von der Lilie des Feldes
zur Lilie des sechsten Tages
Sind das religiöse Bilder, die für Sie besondere Symbolkraft haben?
Natürlich sind das auch Bilder, denn der Verkündigungsengel wird ja mit einer Lilie dargestellt. Die schönste Verkündigung, die ich gesehen habe, stammt von Hans Memling. Da kommt der Engel geflogen, während Maria liest – sie liest ja immer auf den Verkündigungsdarstellungen. Man sieht den Schwung der Flügel, und vom Lufthauch fliegt eine Seite des Buches auf, in dem die Jungfrau Maria liest – was für eine unglaubliche Erzählung, was für ein schönes Bild.
Wurzelt Ihre Religiosität in der Kindheit oder hat sie sich erst später entwickelt?
Zu der Zeit, als ich „Langsame Heimkehr“ schrieb, das Buch, mit dem ich mich laut Franz Kafka am meisten selber umgegraben habe, kamen all diese gewissen Angelerntheiten aus meiner Kindheit und Jugend wieder zurück und haben sich verwandelt von der Angelerntheit zu etwas zu Lernendem. Das hat mich bis jetzt nicht verlassen. So kam es auch zum Gedicht über die Lilie des sechsten Tages, das Sie gerade zitiert haben.
Was bedeutet es Ihnen, Gedichte zu schreiben?
Ich habe in meinem Leben vielleicht fünf wirkliche Gedichte geschrieben. Nehmen Sie das Gedicht: „An den Morgen.“
Aufgewacht vor dem morgenhellen Himmel:
Über die noch dunklen Dächer
treibt aus den Kaminen schon langsamer Rauch
Die Vögel: Sine fine dicentes
Und alle Lieben leben
„Sine fine dicentes“, diese Formulierung kommt aus der Heiligen Messe. Ohne Unterlass wird gesagt: heilig, heilig, heilig, heilig. Ich habe nur das „heilig“ weggelassen. Die Vögel am Morgen, sine fine dicentes, sangen ohne Unterlass. Das muss man wissen, das ist die Essenz des Gedichtes. Wie ich dazu kam? Es hat mich angeflogen, vor langer Zeit schon. Was sich als Gedicht ausdrückt, sehe und spüre ich nicht als Gedicht - es muss dringlich und leicht sein. Heute gibt es eigentlich kaum mehr Gedichte, das kommt auch in den „Unwillkürlichen Selbstgesprächen“ vor: „Die Gedichte werden immer seltener.“. Ich frage mich, warum.
Gehen Sie in die Messe? In den „Selbstgesprächen“ findet sich der Satz: „Warum bin ich nicht in die Messe gegangen, ich Arschloch.“
Ja, das war in Chicago, ich sehe es immer noch vor mir. Ich habe mich am Michigansee herumgetrieben, und eine Zeitlang war das sehr schön - allein sein, allein gehen, am meerhaften See von Chicago. Doch dann dachte ich: Nein, es hat mir doch die Gemeinschaft von Leuten gefehlt, die man zwar nicht kennt, die aber ganz auf die Messe ausgerichtet sind, auf die Eucharistie. Am Ende habe ich mich nicht gerade schuldig gefühlt, aber ich hatte ein Gefühl des Versäumnisses. Mein Rhythmus war zu sehr auf das ekstatische Alleingehen am See gerichtet gewesen.
Der Schriftsteller in Ihrem Buch sagt, dass er jede Form von Parteigängertum vermeide. „...selbst mit einer ‚aus dem anderen Geschlecht’ zusammen sah er sich als Partei. Und Teil einer Partei zu sein, das war nichts für ihn.“ Ist die Gemeinschaft der Gläubigen die einzige, der Sie sich anschließen können?
Ja, je nachdem natürlich, was das für Gläubige sind. In einem meiner Stücke wird der Satz: „Warum toben die Heiden?“ aus dem zweiten Psalm Davids abgewandelt. Der wilde Mann in meinem Stück sagt: „Und heute toben die Gläubigen“. Es kommt eben immer darauf an. Aber, wenn es zart und dem Wort der Schrift fein nachgezogen abläuft – das kann auch der Koran sein - , dann ist das meine Gemeinschaft. Es kann aber genauso die Gemeinschaft auf einem Fußballplatz sein, die einem guten Spiel beiwohnt. Oder die Gemeinschaft, die einen großen Film im Kino anschaut, was nicht so häufig vorkommt. Oder die noch seltener sich ereignende Gemeinschaft eines großen Theaterabends. Auch das ist eine herrliche Gemeinschaft. Bei Konzerten bin ich schon etwas weniger überzeugt, wenn ich an meine Erfahrungen mit dem Konzertpublikum in Salzburg denke. In der Musik geschieht es vielleicht eher bei Pop-Konzerten, bei Van Morrison oder Bob Dylan. Da habe ich schon das Gefühl, dass das Publikum eine gute Gemeinschaft ist. Nach dem Konzert geht jeder für sich weg, aber eigentlich doch noch in einer Gemeinschaft. Und sogar der schrammende Schuh der Weggehenden ist ein Nachklang der Stimme dessen, der gesungen hat. Das nenne ich Gemeinschaft, aber das ist alles flüchtig.
„So alt, und immer noch ungeduldig.“ - „Dreiundsechzig Jahre Ungeduld“ (im Flugzeug) – Sätze aus Ihren „Selbstgesprächen“.
Ja, das trifft auf mich leider zu.
Verliert sich die Ungeduld nicht mit der Zeit?
Warten Sie, in einer halben Stunde werden Sie meine Ungeduld spüren (lacht).  Ja, es ist furchtbar. Ich gebe Ihnen das, Frau Eichel, ich habe extra für Sie noch ein paar kleine Seiten neuer „Selbstgespräche“ abgeschrieben. Da kommt mehrmals die Ungeduld vor. Hier - aber das muss man lang wirken lassen: „Ungeduld ist grußlos.“ Ich meine, es ist eigentlich ein Blödsinn, aber wenn man darüber nachdenkt, ist doch was dran. Die Ungeduld kann nicht grüßen.
Sie hat keine Zeit für Form, keinen Blick für andere …
… ja, und sie hat auch nicht die Freude am Grüßen. Naja, Freude ist schon viel zu sehr interpretiert. Haben Sie einen Moment Geduld?
Ja, ich gedulde mich.
Warten Sie, ich muss es suchen. Ah, da ist wieder die Ungeduld, sogar zweimal: „Und solange du die Geduld nicht hast, bist du nur ein trüber Gast.“ Dann gleich noch einmal: „Unmusikalische Ungeduld“.
Da fällt mir ein anderes „Selbstgespräch“ ein: „Musikalisch gehen.“ Die Ungeduld ist nicht rhythmisiert. Sie wandern jede Tag viele Stunden in den Wäldern hier bei Paris. Gibt es eine musikhafte Freude am Gehen?
Vieles davon ist schon Vergangenheit. Diese Freude, die beim Gehen und durch  das Gehen entsteht, ist nicht mehr so vorhanden. Vielleicht gehe ich nicht lange genug, es genügt ja nicht, eine halbe Stunde in den Wald zu spazieren. Da fängt es ja erst an.
Mir ist in Ihrer Erzählung „Die morawische Nacht“ aufgefallen, dass, wie auch in vielen Ihrer anderen Texte, sehr viele Arten des Gehens beschrieben werden. Das wirkt manchmal wie eine Choreographie: Leute, die um Gräber herumtänzeln, andere, die über steiniges Gelände stolpern. Sind diese Körperrhythmen eine Art von Musik, die Sie empfinden?
Ja, ich habe mir oft gefragt, warum eigentlich die Ballett-Leute nicht einen Tanz aus dem Gehen machen. Die Tänzer wollen immer hüpfen und springen, statt sich zu fragen: Was gibt es für Hindernisse auf der Welt? Es gibt ja unglaubliche Hindernisse, und wenn man sie übersteht, wird daraus ein Tanz, ohne das man extra dieses ballettöse Gehopse macht. Warum denn nicht genauer schauen, was Hindernisse sind? Und wie aus etwas Schwerem, schwer zu Bestehenden im Leben ein Tanz wird, indem man die richtige Bewegung dafür findet? Daraus wird dann eine Art Zehntelsekundentanz, und dann geht es wieder ganz normal weiter. Das tut dem Zuschauer ebenso gut wie dem, der das bestanden hat. Ich denke, dass die Ballett-Leute viel zu wenig Forscher sind. Auch wenn sie denken, dass sie revolutionäres Ballett machen, schauen sie doch nicht genug. Das kann man von sich selber auch sagen.
Auch das avantgardistische Ballett ist Ihnen zu artifiziell?
Ja, artifiziell, das haben Sie gut gesagt. Man sollte sich die Leute auf der Straße oder in der Steppe oder auf einem Bau anschauen. Es muss ja deshalb nicht gleich eine Pantomime werden.
„Ich schaue zu wenig. Ich schaue zu wenig auf.“
Das meine ich auch ganz technisch; man sollte einfach nach oben schauen. Nachdem man lange hinaufgeschaut hat, sieht man unten den Boden viel, viel besser. Probieren Sie das mal, diesen Rat kann ich nur jedem geben. Lange hinaufschauen, dann sieht man unten sofort, wo ein Steinpilz ist oder wo eine Ameise wackelt oder wo eine Hornisse grad in ihr Nest schlüpft. Oder auch zum Beispiel, wenn Hundedreck daliegt. Kann nichts schaden.
Ist das Schauen der Gegenpol zum Terror der Medienbilder?
Ja, das kann man sagen - der heutigen, der käuflichen Bilder, der verkauften Bilder, die in die Kommunikationskanäle hineingeschossen werden.
Entziehen Sie sich völlig? Sehen Sie nicht fern?
Natürlich sehe ich fern, aber ich schlafe sofort ein, es ist furchtbar. Das einzige, zu dem ich mich richtig gedrängt fühle, sind die Nachrichten spät nachts, aber nach fünf Minuten bin ich dann verschwunden. Es gab nur zwei Sachen, bei denen ich nicht eingeschlafen bin in den letzten Jahren – das war immer Fußball oder Pop-Konzerte. Auch französische Chansons sehe ich sehr gerne. Und sogar da bin ich jetzt schon in Gefahr wegzududeln.
Sehen Sie deutsche Nachrichten?
Nein, nein, ich habe keinen deutschen Sender, ich habe nur drei französische Programme.
Interessieren Sie sich für das, was in Deutschland politisch passiert?
Ich lese Die Zeit und die Süddeutsche.
Informieren Sie sich über das politische Tagesgeschehen?
Ich sollte eigentlich mehr wissen, vor allem, was Österreich betrifft. Deshalb kaufe ich mir die Süddeutsche, weil die auch über Österreich berichtet. Aber es ist bei weitem nicht genug.
Ist das Pflichtbewusstsein oder Neigung?
Mehr Pflichtbewusstsein, Neigungen in dieser Richtung habe ich nicht. Es ist eher eine unangenehme Neugier, die ich nicht an mir mag. Da sitze ich manchmal am Abend in einem Restaurant, wenn ich allein bin, und lese Le Monde - und danach fühle ich mich total bescheuert. Ich gebe nicht den Zeitungen die Schuld an meinem Bescheuertsein, sondern ich lese einfach zu viel. Statt dass ich, wir mir das manchmal gelingt, beim Durchblättern sage: Diese zwei, drei Artikel werde ich lesen, lese ich dann aber alles, und danach sehe ich überhaupt nichts mehr.
„Ich habe keine Musik in mir. Und ich will keine Musik in mir. Und dabei bleibt’s.“
Ja, das ist auch so ein Spruch, der halt aus dem Augenblick kommt.
Sie haben einmal gesagt, Sie hörten keine Musik mehr zuhause, weil Sie dann das irrige Gefühl hätten, schon etwas geschafft zu haben.
Ja, das hat mir ein Bekannter mal gesagt, und es hat mich so richtig ins Nachdenken gebracht. Das Musikhören gaukelt einem vor, dass man etwas gemacht hat, das man erst machen sollte. So, wie es mir auf andere Weise auch mit dem Wandern in den Wäldern geht, am Morgen, bevor ich arbeite. Ich gehe lange in den Wald, und da erlebe ich so viel, dass ich beim Nachhausekommen denke: Eigentlich habe ich schon alles getan – und dabei sollte ich ans Schreiben gehen. Nietzsche, der ein wahres Musikopfer war und ein Musikkenner im Gegensatz zu mir, hat ja sehr treffend gesagt: Hüte dich vor dem Mond, hüte dich vor der Musik.
Wenn jemand Wagner liebt, ist die Gefahr nicht weit.
Völlig richtig. Aber ich höre schon Musik. Es war eine dieser Prämissen, die man sich stellt, und an die man sich dann zum Glück nicht hält: Mein Haus soll ein Haus ohne Musik sein. Am nächsten Tag schon habe ich wieder Musik gehört, ob das Bach war oder Erik Satie, den ich besonders gern höre, oder Anton von Webern – er komponiert eine Musik, die spricht. Ich habe selten erlebt, das Musik sprechen kann. Man weiß nicht, was sie sagt, und das ist was Herrliches. Man ist nicht behelligt von Bedeutung.
Musik hat nicht den Terror der Eindeutigkeit. Ist die Mehrdeutigkeit das eigentliche Metier des Schriftstellers? Eines Ihrer Gedichte heißt „Verwechslungen“ und beginnt:
„Ist das da auf dem Flugfeld, mit dem aufgerissenen Maul, ein Hai?“ –
- „Nein, es ist die offene Einstiegsluke des Flugzeugs.“
„Liegt da im Obstgarten nicht ein Haufen von Handgranaten?“
- „Nein, was da im Obstgarten liegt, ist ein Haufen von schwarzen, verfaulten Äpfeln.“
„Schau, in die Briefmarke schlägt ein Blitz ein!“
„Nein, das ist nur ein Teil des Sonderstempels.“
Ist das Missverständnis nicht viel schöner? Ist nicht der poetische Blick auf die Welt der verwandelnde Blick?

Ja, Sie haben Recht. Mit diesem Gedicht aus „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ verhält es sich wie mit den Irrtümern. Würde ich eine Autobiographie schreiben, wären der rote Faden die Täuschungen. Einerseits die guten, wie Sie sagen, andererseits die unfruchtbaren, und drittens jene, die die Deutschen und die Engländer auf den falschen Weg gebracht haben.
Die Musik ist das eine – viel schlimmer aber sind für den Helden der „Morawischen Nacht“ die Geräusche: Er hat eine wahre Geräuschphobie.
Das war mir sympathisch, weil ich Lärm für eine unglaublich unterschätzte Belästigung halte.
Ach, meinen Sie das auch?
Wir reden von Elektrosmog, von Pestiziden, von allen möglichen Umwelteinflüssen, selten aber von der Aushöhlung durch die permanente Geräuschkulisse. In Ihrem Buch heißt das Gegenkonzept „Geräuschabwehr“.
Ja, ich bin immer noch gestresst, es ist furchtbar und auch schön, wie geräuschempfindlich ich bin. Da kann es passieren, dass man sogar innen und außen verwechselt, dass der Knopf an der Jacke die Tischkante streift, und man zusammenzuckt, als ob draußen die Fehlzündung eines Autos losgeht.
In dem Zusammenhang haben Sie gesagt, Sie seien schreckhaft, aber nicht ängstlich.
Das ist völlig richtig, ja. Ich zucke oft beim kleinsten Geräusch zusammen, aber ängstlich bin ich eher nicht.
„Jede Straße hat ihre Verlorenen.“
Ich selbst kann nicht verloren gehen, weil ich in diesem Kaff jede Straße kenne. Aber ich sehe die, die man früher in meinem Dorf die Dorfdeppen nannte. Ich kann sie verstehen, wenn sie endlos lang am Marktstand nach Kleingeld suchen, denn damit wollen sie wie die Fußballer Zeit schinden, damit sie nicht nach Hause gehen müssen. Das ist entsetzlich. Das sind die wirklich Verlorenen.
Kennen Sie das Gefühl der Angst, im übertragenen Sinne verloren zu gehen? Sich selbst verloren zu gehen?
Es steht alles auf des Messers Schneide. Gerade die Leute, die heute die Sieger sind, können schon am nächsten Morgen ganz unten sein. Das ist mein Grundgefühl. Ich habe heute einen Triumph mit irgendeinem Scheißerfolg, und am nächsten Tag bin ich der letzte Mensch. Heute bin ich glücklich mit jemandem, und ich freue mich, wie man sich überhaupt nur freuen kann, am nächsten Tag aber möchte ich Punkt, Punkt, Punkt.
Das sind Wechselfälle. Fühlen Sie sich unzerstörbar?
Nicht nur das Glück, auch das Unglück ist manchmal eine Schimäre. Mein Bruder, der sehr schwer krank ist, der jeden Tag leidet und viele Tabletten nehmen muss, freut sich des Lebens, so weit er kann - vielleicht mehr als unsereiner. Er sagt, dass es manchmal Tage gibt, in denen das Leben ganz einfach sei, sogar für ihn. Und dann wird es wieder so schwer. Man weiß nicht, warum und wie die Gewichte sich verlagern. Ein kleines Gewicht genügt, und plötzlich denkt man, es geht überhaupt nicht weiter. Ich weiß nicht, woran das liegt. - Dem Papst geht es sicher nicht so.
Wer weiß...
Na ja, von Mutter Teresa habe ich gehört, dass sie manchmal schwerste Depressionen hatte. Es hat schon ein bisschen mein Vertrauen in sie geweckt, dass sie so auf der Kippe war.
Beschäftigen Sie sich mit dem Tod?
Das ist übrigens gut gefragt, ich kann Ihnen nämlich eine Antwort geben: Ich beschäftige mich nicht mit dem Tod, er beschäftigt mich. Jeden Tag, so ist es halt.
Und warum beschäftigt der Tod Sie? Sie sind vor kurzem 65 geworden - ist es das Gefühl des Alterns?
Ich habe schon als Achtjähriger fürchterliche Todesängste gehabt, nur weil der Priester im Religionsunterricht gesagt hat, man könne am Abend, wenn man einschläft, nicht wissen, ob man am Morgen aufwacht. Danach hatte ich monatelang Todesangst. Ich wollte nicht einschlafen, weil ich dachte: Ich kann ja nicht wissen, ob ich wieder aufwache. Es war damals eigentlich schlimmer als jetzt.
Und was tun Sie, wenn der Tod Sie beschäftigt?
Heute halte ich mich an den Satz von Spinoza: Der vernünftige Mensch, so lang  er lebt, denkt über das Leben nach. Der vernünftige Mensch spricht nicht dauernd vom Tod.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Christine Eichel
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Note that the title refers to the river Morava and not to Moravia in the Czech Republic. Handke uses a Germanised form of the Czech word, rather the usual German word, March. The Moravan Night is a houseboat. It used to be a floating hotel but has been converted for use as a personal houseboat of the author or, rather, as the narrator quickly points out, the ex-author (he has not written for ten years) who is the focus of this novel and who may or may not be, at least in part, based on Handke himself. At the beginning of the book, a group of people - friends, associates, like much in this book it is not entirely clear - come to the boat, which is moored on the Morava river (though we do not know exactly where or, indeed, in what country). They are sat at individual tables. As well as the ex-author, there is a woman  there. Who is she? We do not know. We learn from him some of his life, in particular how he had to flee from a woman who was out to kill him (we will learn about her later) But we also learn of strange journeys he made.
The first journey is a strange one through an enclave (he uses the term in German) which may or may not be Kosovo. All we know is that they goes through Porodin. They are a group of a people on a bus (an old bus, with Cyrillic writing on the side). The ex-author (we never learn his name, he is known only as the ex-author) generally keeps himself to himself and so do the others but there are occasional interactions, such as we when they all start asking him awkward questions or when the driver criticises the people of small ethnic groups struggling for their independence, and not just the ones in former Yugoslavia. The road takes them through ruined towns though some are still inhabited and occasionally they are greeted by the inhabitants or followed by the police. They even see tanks. But they also see buildings destroyed, waste all over the place and dead animals. Some villages are completely uninhabited. Both the descriptions of the landscape and the reactions and thoughts of the ex-author and some of the passengers are haunting and masterly told, as only Handke can.
But we also follow his other, earlier travels. He spends time on an island in the Adriatic, which he calls Cordura (named after the film They Came to Cordura), though that is not its real name. Here he lives a life of isolation, mixing only with the fishermen. He goes to Spain, starting with Numancia, where he attends a conference on noise and meets the poet Juan Lagunas, who tells him that we no longer have an association with a place any more and that this is something irretrievably lost. He travels around, particularly in Galicia, seeing places, meeting people and going to football matches. It could be boring with a lesser writer but Handke keeps our interest going at all times. He then goes to Germany, specifically to a small town in the Harz mountains where his father had lived. He had barely known his father and wanted to discover his roots but his visit did not help. The (naturally unnamed) town did not seem German to him but could have been any where. This may partially have been because it was near the East German border but also because he felt more Balkan than German. He looks for his father's grave in the cemetery but it is not there. When he inquires at a nearby flower shop he learns that graves for which the upkeep had not been paid were dug up, to allow space for the recently died. He remembers only his father's death, suddenly keeling over and telling his wife, Lina, that he was dying. The narrator points out that this is the only German name he mentions during his story.
This points to one of the key themes of this work. Later in the novel, the ex-author narrator will comment on this issue of belonging, of place as well as talking about the land and languages and cultures. This is now all confused, citing the example of an Asian and Turkish immigrant talking to one another in a strong Austrian dialect. We are part of this whole - our language, our land, our culture - but we are individuals as well and this has also taken a terrible blow in the post-Yugoslavia conflict. There is a telling image of the narrator ex-author going to a conference and visiting a cemetery called the Cemetery of the Nameless, a cemetery where unknown corpses and the corpses of suicides were buried. There is even a gravestone which reads simply Nameless. Never to be Forgotten. (It reminds us, of course, of the father's grave which has now gone.) It is ironic, of course, but also, for Handke, deeply sad that these people have been forgotten. But, in the end the Porodin Enclave is no longer an enclave and Porodin is now Porodin and no longer Породин.
This book, unfortunately, is not available in English (nor, as far as I can see, in any other language). Handke is one of the most important authors writing tody, even if you find his views on Serbia somewhat disturbing. Yet, of the eighteen books published by him since 2000, only two are available in English. Yes, some of his works are long (this one is 560 pages but still much shorter than Der Bildverlust (Crossing the Sierra de Gredos)) and yes, he is very prolific but more, much more of his work should be available in English, including this one.

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Peter Handke setzt sich mit den Kritiken seines jüngsten Buches „Die morawische Nacht“ auseinander und verteilt Lob und Tadel
FOCUS: Herr Handke, Ihr Buch fand die geballte Aufmerksamkeit der Feuilletons. Bedeuten Ihnen Literaturkritiken noch etwas?

Handke: Im März 1966 schrieb Helmut Scheffel in der FAZ über mein erstes Buch „Die Hornissen“: „Dieser Autor betreibt Grundlagenforschung. Man  vertraue sich ihm an.“ Damals war ich 23 Jahre alt. Ob man sich mir anvertrauen soll, das weiß ich nicht. Dass ich Grundlagenforschung betreibe, das hat er gut gesehen. Von da an habe ich immer wieder großartige und aufmerksame, mich selbst stützende wie bekräftigende Kritiken erhalten. Die habe ich auch gebraucht, denn auf sich allein gestellt, ist man doch relativ verloren.

FOCUS: Sind Sie wirklich so ausgesöhnt mit der deutschen Literaturkritik?

Handke: Ich bin, das muss ich einmal sagen, voller Anerkennung, was die deutschsprachige Literaturkritik angeht. Mit Philip Roth bin ich nämlich völlig einig, was zum Beispiel die „New York Times“ betrifft. Die leistet sich die schlampigste, oberflächlichste und unbelesenste  Literaturkritk, die ich je erlebt habe. Ihr Literaturteil ist einfach liederlich.

FOCUS: Aber es gab auch immer deutsche Autoren, die Ihre Bücher kritisiert haben?

Handke: Ja, Marcel Reich-Ranicki. Bei ihm habe ich immer den Willen gespürt, mich auszuschalten, meine literarische Existenz zu vernichten. Über mein Buch „Das Gewicht der Welt“ urteilte er in einem Satz: Damit habe sich Handke aus der Literatur geschrieben. Nach meiner Erzählung „Langsame Heimkehr“ meinte er, ich sei jetzt erledigt. Diese Angriffe auf meine Person hat er ungestraft vorbringen können.

FOCUS: Das liegt 30 Jahre zurück, und Sie sind aber der deutschen Literatur erhalten geblieben ...

Handke: Um es milder zu sagen, was ich meine. Es gibt eine Verantwortung der Literaturkritiker. Nicht mir gegenüber. Ich kann mir selber gestohlen bleiben. Aber der Literatur gegenüber. Um ein Wort Eichendorffs abzuwandeln: Die Literatur ist das Herz der Welt, das genau, manchmal auch ungenau schlagende Herz der Welt. Das Ungenaue in der Literatur gibt oft ein genaues Bild der Welt.

FOCUS: Zurück zur Gegenwart: Hat Ihnen alles gefallen, was die Rezensenten im vorigen Monat geschrieben haben?

Handke: Warum soll ich mich zu Literaturjournalisten äußern? Ich kann mir ja nicht einmal vorstellen, wie ich in einer Feuilletonredaktion arbeiten könnte. Malen Sie sich aus: Ich komme nach Hause zu meiner Mutter, und sie würde mich fragen: „Lieber Sohn, was bist du geworden?“ Und ich müsste zu meiner Mutter sagen: „Ich bin Literaturkritiker geworden.“ Ich glaube, das wäre noch peinlicher gewesen, als wenn ich mich als Schriftsteller ausgegeben hätte.

FOCUS: Sie weichen aus ...

Handke: Also gut! Mir sind drei Sachen in der Kritik von Iris Radisch im Wochenblatt „Die Zeit“ aufgefallen. Als Erstes: Sie erwähnt die Stelle, an der der Icherzähler mit anderen auf einen Friedhof geht, auf einen – in Klammern gesetzt: natürlich verschwundenen – serbischen Friedhof. Da wird insinuiert: typisch Handke. Dabei kommen in meiner ganzen Erzählung die Worte serbisch oder Serbien gar nicht vor. Dass für mich ein natürlich verschwundener Friedhof ein serbischer sein müsse, ist ideologische Unterstellung. Die gehört nicht in eine Literaturkritik. Dann schreibt sie über mich, ich wäre unter anderem von Liebe befreit. Und wieder in Klammern: für die er sich allerdings noch nie besonders interessiert hat. Was hat das mit Kritik zu tun? Ein Autor ohne Liebe ist doch überhaupt kein Schriftsteller. Und zuletzt: „Sicherlich schreibt er schon wieder. Immer wieder an diesem endlosen Buch seiner selbst ...“ Von oben herab, ohne Achtung für den nach Goethe wünschenswertesten Beruf des Menschen, das Schriftstellertum, betreibt die Göre, hätte ich fast gesagt, Meinungsmache. Was hat sie für eine Ahnung vom meinem Schreiben, vom Schreiben überhaupt?

FOCUS: Das muss sie Ihnen erzählen. Vielen wohlwollenden Kritiken war die Erleichterung über ihr Schweigen zu Serbien anzumerken.

Handke: Als ob es zu einer Pflichtübung gehörte, haben sie festgestellt: Ah, trotz seiner Verranntheit, was Serbien betrifft, hat er sich seine poetische Kraft bewahrt und sie vielleicht sogar erweitert und so weiter und so fort.

FOCUS: Stimmt die Einschätzung nicht?

Handke: Fehlt nur noch die Frage: Was halten Sie von der politischen Lage in Serbien oder sonstwo im Balkan? Nein, ich will jetzt ruhiger und ernsthafter werden. Es ist in mir ein anderer Handke als derjenige, der eine Erzählung wie „Die morawische Nacht“ schreibt. Dieser andere, der immer noch Empörte, lässt sich im guten oder weniger guten Sinne manchmal in einem Gespräch, in einem Interview oder auch am Tisch mit Privatleuten gehen, wie man so sagt. Sich im Guten oder gar kontrolliert gehen zu lassen muss nicht unbedingt etwas Übles sein. Den anderen Handke gibt es immer noch, auch wenn viele Rezensenten meinen, dass ich mich gewandelt hätte und ein selbstironisches, mildes Bild vom Balkan und seinen Konflikten wie auch von mir selbst abgebe. Der Zug zur Selbstkritik, ja zum Selbstbelächeln war immer in meinen Texten.

FOCUS: In Handke, dem Erzähler?

Handke: Ja. Es gibt den Peter Handke, der mehr ist als ich, der vom epischen oder erzählenden Prinzip bestimmt ist. Diese Instanz lässt mir beim  Schreiben, Erzählen, beim Aufschreiben nichts durchgehen, was ich im Gespräch oder im Streit, auch im aktuellen politischen Streit je gesagt haben könnte. Im Schreiben lasse ich mir nichts durchgehen.

FOCUS: In Ihrem Buch tritt ein Mann namens Melchior auf. Ist das der Anti-Handke, der nichts vom epischen Prinzip hält?

Handke: Ich wollte einen bösen Menschen, einen heutigen Teufel entwerfen – mit süßlicher, sonorer Stimme, stets wohlerzogen und höflich. Als Schreiber widerfährt ihm nie, was Franz Kafka etwa einmal so beschrieb. „Ein Jahr lang muss ich in mir suchen, bis ich ein wahres Gefühl in mir finde.“ Wenn aber ein wahres Gefühl da ist, das in die Erzählung eingeht, entsteht dann nicht eine natürliche, die physikalische, psychophysikalische Sprache – gegen diejenige, derer man sich in den Medien bedient. Empfindlich für die Sprache zu werden und das reißerische, künstlich erzeugte Schreiben zu durchschauen, darauf kam es mir bei Melchior an. Aber es war sehr schwierig, so eine Figur in die Intensität und Ruhe meiner epischen Erzählung einzunähen. Mein Schreiben folgt einem Rhythmus, aber ich versuche, immer wieder aus ihm herauszukommen, gegenläufig und immer wieder in Widersprüchen zu sein. Daher die zunehmend vielen Fragen in meiner Prosa.

FOCUS: Wer ist der Gegentyp zu Melchior?

Handke: Das ist sicher der Icherzähler. Aber es gibt noch einen anderen. In der spanischen Steppe porträtiere ich den Dichter Juan Lago Lagunas. In seiner kleinen Heimatstadt ist er der verachtetste Mensch, leicht schizophren, was immer das heißen mag. Kein Mädchen schaut ihn an. Die Mutter hält nichts von ihm, weil er Dichter ist. Seine Gedichte erscheinen im Selbstverlag.

FOCUS: Was sollen wir Leser denn mit dieser Gestalt anfangen?

Handke: Er kommt in einer entscheidenden Phase der Erzählung vor. Es geht darum: Was sind die Dichter heute? Wo sind ihre Leser geblieben? Was ist aus den Lesern geworden? Oder: Die Dichter, die früher einmal Volkshelden waren, wo krebsen sie herum? An welcher Wahnsinnskante balancieren sie?

FOCUS: Wie viel Autobiografisches ist in Ihr Buch eingeflossen?

Handke: Es ist schwer zu entscheiden, was autobiografisch ist. Meine Erzählung ist eine große Fantasie. Ich habe mir vorgestellt, was sein könnte. Ich kenne ein Boot an der Morawa, auf dem ich schon oft übernachtet habe. Ich kenne es von innen und von außen, vom Rumpf bis in die Küche. Ich habe sogar mal mit dem Gedanken gespielt, es zu kaufen. Aus dem Gedankenspiel, das ja nicht nur eine Spielerei ist, entstand dann der Ort der Handlung, das Hausboot. Es heißt in Wirklichkeit „Luna“. Ich habe es in „Die morawische Nacht“ umbenannt und in die Zukunft  projiziert. Ich bin kein Nach-Erzähler, sondern ein Vor-Erzähler. Nur die Geschichte meiner Mutter habe ich nacherzählt. „Wunschloses Unglück“, diese Erzählung, ist mir ungeheurer schwergefallen.

FOCUS: Was heißt hier Vor-Erzählen?

Handke: Ich meine die Fiktion. Wie hat Hermann Hesse gesagt? „Ich möchte endlich wieder das Risiko der Fiktion erleben.“ Keine Tatsachengeschichten, sondern das Risiko der Fiktion. Das ist das Spannendste und das Gefährlichste am Schreiben, die Krönung aller prosaischen Literatur.

FOCUS: Aber es gehen doch eigene Erfahrungen in die Erzählung ein?

Handke: Seit 20 Jahren habe ich im Sinn gehabt, einmal über die europäische Rundreise eines Schriftstellers zu schreiben. Auf meinen eigenen Rundreisen sind mir immer die seltsamsten und wirklich erzählenswerten Dinge zugestoßen.

FOCUS: Also fließt doch Autobiogafisches in Ihre Erzählung ein?

Handke: Ich beschreibe ja nicht direkt, was mir zugestoßen ist, sondern ich muss episch werden. Ich muss in einen Traum geraten, ich muss erfinden, so erfinden, dass meine Erzählung ein Spiegel der Welt ist, unserer Zeit oder unserer Orte, unserer Probleme.

FOCUS: Der Icherzähler hat Probleme mit Frauen. Worum geht es da?

Handke: Nicht um mich, wie einige Frauenfotos im Magazin „Der Spiegel“ suggerieren. Meine Frau Sophie, die wirklich die Frau meines Lebens ist, kommt da als Freundin vor. Fast beleidigend, oder? Nun: Der Icherzähler löst eine fixe Vorstellung auf. Er bildete sich ein, als Autor habe er sein Leben der Kunst und nicht den Frauen zu widmen. Dass ihm Frauen als Widersacher erscheinen, liegt aber an seiner Natur, nicht am Schriftstellertum. Mit dieser Einsicht verwandelt sich seine Natur.

FOCUS: Das Buch vom abgedankten Schriftsteller – viele Rezensenten fürchteten, es könnte ihr letztes sein. Ist da etwas dran?

Handke: Ich bin im Pensionistenalter, da kommt man auf solche Gedanken. Aber mich beschäftigen schon wieder neue Projekte. Eine Geschichte über Partisanen in Kärnten, ein kleines Pilzbuch, ein Versuch über den stillen Ort, die öffentlichen Klosetts oder die Aborte in Tempeln. Ob das dann so klein und harmlos wird, wie es jetzt klingt? Beim Schreiben kommen die Probleme. In der Prosa muss auch Drama stattfinden. Schließlich doch eine Art Autobiografie, wenn es mich mit 80 noch gibt. Alles nur von den Dingen aus: Was war Schnee für mich? Was sind die Augen von Menschen?

„Es gibt den Peter Handke, der mehr ist als ich, der vom epischen oder erzählenden Prinzip bestimmt ist. Diese Instanz lässt mir beim Schreiben ... nichts durchgehen“ Peter Handke

Der Dichter

Peter Handke lebt seit 1991 bei Paris.
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Kultur: „Immer wieder in Widersprüchen“ - weiter lesen auf FOCUS Online: http://www.focus.de/kultur/buecher/kultur-immer-wieder-in-widerspruechen_aid_237236.html

http://www.perlentaucher.de/buch/peter-handke/die-morawische-nacht.html


KLAPPENTEXT

Ort: der Balkan, die Morawa, ein Zufluss der Donau, ein Hausboot auf dem Fluss. Zeit: eine Nacht, vom späten Abend bis zum blauenden Tagesbeginn. Personen: Ein Autor, ein ehemaliger, ruft seine Freunde, sieben an der Zahl, auf das Hotelschiff, seine Enklave, wohin er sich ein Jahrzehnt zuvor zurückgezogen hat. Die erste Überraschung erleben die Bekannten gleich beim Betreten des Boots: Der für seine Distanz zu den Frauen berüchtigte Ex-Autor empfängt sie in Begleitung einer - Angestellten?,  Gefährtin?, Geliebten? Auf das Abendmahl folgt eine lange Erzählung, in der die Stimme des Autors dominiert, in die sich zuweilen die Stimmen der anderen männlichen Anwesenden einpassen.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.02.2008

In seiner Schönheit schlicht bezwingend scheint Michael Rutschky das neue Werk Peter Handkes, auch wenn dieser Autor für ihn eine ambivalente Figur bleibt, zumal wenn er sich politisch äußert. Skeptisch betrachtet er die jubelnden Kritiker, die kundtun, Handke habe seine Jugoslawien-Obsession hinter sich gelassen. Ein aktueller Zeitungsbericht, in dem Handke erklärt, er würde den Politiker Nikolevic  von der radikalnationalistischen Partei zum Präsidenten wählen, wäre er Serbe, spricht für Rutschky hier eine andere Sprache. Nichtsdestoweniger räumt er im Blick auf das neue Buch ein, es sei schwer, "es nicht wunderschön zu finden". Er bewundert Handkes Prosa, die in seinen Augen einer "Ästhetik des Erscheinens" folgt, freut sich über Wortneuschöpfungen und amüsiert sich über Kalauer, die Veräppelung von Namen wie Gringo Bush, Josip Fisherman, A. Hüttler. Handkes literarisches Bestreben sieht Rutschky gegen das gerichtet, was diese Figuren repräsentieren: eine von außen aufgezwungene Normierung eines authentischen Lebenszusammenhangs, einer Landschaft, eines Orts. Insofern erkennt er bei Handke eine Annäherung an den Nationalismus des 19. Jahrhunderts, wobei er freilich präzisiert, es handle sich dabei um ein "literarisches Verfahren".

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 15.01.2008

Als "selbstironische Bilanz (s)eines Dichterlebens" würdigt Andreas Breitenstein das neue Werk Peter Handkes, das ihn rundum überzeugt. Die Erzählung um einen ehemaligen Autor, der auf der Suche nach seinem verlorenen Selbst durch Europa reist, das Grab seines Vaters und seiner Mutter besucht, seinen Bruder, Politiker, Schulkameraden, Dichterkollegen trifft und mit Romanfiguren spricht, um am Ende wieder zu seinem Hausboot "Morawische Nacht" in Porodin zurückzukehren und mit Freunden zu feiern, nimmt nach Ansicht Breitensteins den entspannten Ton des Vorgängerwerks "Kali" auf, um ihn weiterzuführen Richtung "Revision und Versöhnung". Er würdigt die "gedankliche Reife" und "epische Weite" des Werks, das sich durch wunderbare Reise-Episoden, Meditationen und Alltagsbeobachtungen, autobiografische Erinnerungen und poetologische Reflexionen auszeichnet. Und nicht zuletzt findet er in dem Buch auch eine selbstironische Selbstprüfung Handkes.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 12.01.2008

Überrascht und begeistert zeigt sich Thomas Steinfeld von dieser neuen Erzählung von Peter Handke. So nämlich, wie er der Leserschaft hier kommt, habe man den Autor noch nicht erlebt. Natürlich sei er sprachlich und stilistisch wiederzuerkennen. In manchen Zügen schließt der Band auch sehr direkt an frühere Bücher Handkes an. Ganz erstaunlich aber findet Steinfeld die Offenheit, mit der sich der Autor hier nicht nur der Welt zugewandt zeigt, sondern auch, ansatzweise jedenfalls, mit sich selbst ins Gericht geht. Gerahmt ist das Buch durch eine Party, zu der sein Protagonist, ein Ex-Autor, Freunde auf sein Hausboot auf dem Donau-Nebenfluss Morawa lädt. Von dort aus aber wird gereist, auf die Insel "Cordura" (in der der Rezensent Krk wiedererkennt), aber auch nach Wien oder Kärnten. Die Reiseschilderungen werden zu literarischen Reportagen und zugleich geht es in der Erzählung um einen Erzähler, dem  "die Zuhörer und Leser abhanden kamen", aber auch, so Steinfeld, immer um das Erzählen selbst. Der Rezensent ist, keine Frage, von diesem erstaunlich "jungen, klaren und rücksichtslosen" Peter Handke fasziniert.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 10.01.2008

Ausführlich bespricht Iris Radisch Peter Handkes neuen Roman, den sie als Fortschreibung seines "einzigen großen Lebensbuches" empfand, zu dem sie spätestens alle Bücher seit "Die Lehre des St. Victoire" gezählt wissen will. Dort nämlich habe Handke die entzauberte Welt zum ersten Mal zum Gegenstand gemacht und seitdem ein nicht unerhebliches Maß an literarischer Energie aufgebracht, sie schreibend zurück zu verzaubern. Im vorliegenden Fall führt das bei der Rezensentin jedoch schnell zur Überreizung. Auch wirkt Handkes Rückverzauberung im jüngsten Buch gelegentlich wie eine Computeranimation auf sie. Natürlich gibt es auch manches auf der Habenseite zu verbuchen: zum Beispiel eine gewisse Relativierung der nationalistischen Serbien-Ausflüge aus dem Jahr 1996. Aber auch gewohnte Qualitäten Handke'scher Prosa, meisterhafte Miniaturen beispielsweise, sorgen bei der Rezensentin mitunter für Lesegenuss. Insgesamt aber scheint angesichts weitgehend handlungsfreier Litaneien, "höherer Umstandskrämerei" und inszeniertem "Stottern, Verzögern, Fragen, Nachstoßen" ein gewisser Verdruss zu überwiegen. Vor lauter Budenzauber könne man aus Sicht der Rezensentin nämlich leicht das Herzstück dieses Buchs übersehen: die Rede der toten Mutter im Traum, die ihren verlorenen Sohn frei von der Schuld an ihrem Selbstmord spricht.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 07.01.2008

Martin Krumbholz nimmt etwas überrascht und vielleicht auch ein bisschen erleichtert zur Kenntnis, dass das neue Buch von Peter Handke, das schon im Titel den Balkan als Reflexionszentrum angibt, keinerlei Zündstoff für politische Debatten enthält. Ein Schriftsteller, den man laut Rezensent getrost als Alter Ego Handkes lesen kann, wenn das Buch ansonsten auch keinen autobiografischen Hintergrund hat, hat Freunde auf sein Hausboot auf der Morawa eingeladen und erzählt ihnen eine Nacht lang von Erinnerungen einer Reise durch Europa, fasst der Rezensent zusammen. Politisch wie poetologisch gibt sich dieses Buch "defensiv" und beschwört nicht nur den "Balkan" als utopischen Ort jenseits politischer Auseinandersetzungen, sondern verteidigt auch die Literatur als Anschauungskunst gegenüber zweckgebundenem Schreiben. Für Krumbholz ist das jüngste Buch Handkes ein grandioses Werk, das, wenn es über ein Treffen von Maultrommlern in Wien oder über eine "multikulturelle Krypta" erzählt, mit wunderbar unmittelbaren und anschaulichen Beobachtungen aufwartet, die in dieser Form bei keinem anderen Autor heute zu finden sind, wie der Rezensent berückt preist.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.01.2008

Als klar markierten Beginn von des Dichters Alterswerk begreift Rezensent Hubert Spiegel diese nicht eben schmal ausgefallene Erzählung von Peter Handke. Etwas wie eine lineare Handlung gibt es - vielleicht sollte man sagen: natürlich - nicht, dafür aber die Wiederbegegnung mit vielen von Handkes Lebensthemen. Der Balkan natürlich, bzw. ein seltsames Idealbild davon, dem der Dichter mit der bekannten Beharrlichkeit anhängt. Aber auch frühere Bücher: So taucht etwa Gregor Keuschnig aus "Die Stunde der wahren Empfindung" wieder auf, schreibt Spiegel. Es dominiere ein Erzähler, der freilich immer wieder auch beschimpft werde. Überhaupt scheint es vor allem die entschlossene Uneindeutigkeit des Tons, die den Rezensenten besonders fasziniert. Handke schwanke hier zwischen Satire und Autobiografischem, zwischen versponnenem Märchen und nicht zu unterschätzender Misogynie. Der Dichter "vergibt sich selbst", konstatiert Spiegel, der ihm da aber offensichtlich in nichts nachstehen will.
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ERZÄHLUNGDie Geografie der Träume

Peter Handke erzählt in seinem neuen Buch »Die morawische Nacht« das große Zaubermärchen seines Lebens
Eine der wichtigsten Unterscheidungen in der Literatur ist die zwischen den Ein-Buch-Schreibern und den Viel-Buch-Schreibern. Viel-Buch-Schreiber gibt es wie Sand am Meer. Das Viel-Buch-Schreiben ist die übliche, allgemein verbreitete literarische Praxis. Die Ein-Buch-Schreiber, die ihr ganzes Leben lang Buch für Buch an einem einzigen großen Lebensbuch schreiben, sind eher selten. Zu ihnen gehören auffallend viele österreichische und französische Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Zu ihnen gehört auch der in Frankreich lebende Österreicher Peter Handke.
Das neue, 560 Seiten lange Buch Die morawische Nacht von Peter Handke ist deswegen kein wirklich neues Buch. Die lange Erzählung einer Bus-, Flug- und Fußreise durch Europa auf den Spuren seines eigenen Lebens und Schreibens ist vielmehr, was leicht vorauszusehen war: eine Fortsetzung seines Lebensbuches, zu dem bereits die vorangegangenen Kapitel Langsame Heimkehr, Die Wiederholung, Versuch über die Jukebox, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem Haus, Mein Jahr in der Niemandsbucht und Der Bildverlust gehören.
Ein Ende oder Ziel dieses Lebensbuches ist nicht abzusehen. Um »Fortschritte« im gebräuchlichen, also abendländischen Sinn des Wortes scheint es dabei nicht zu gehen. Wenn es überhaupt ein Ziel gibt, dann ist es allenfalls die Fortsetzung, das Weitererzählen selbst. Möglicherweise geht es dabei auch ein wenig – es handelt sich bei den Ein-Buch-Autoren schließlich vorwiegend um solche des katholischen Kulturraumes – um das Weitersprechen der Litanei.
Damit ist noch nicht viel gesagt, aber vielleicht doch das Entscheidende. Denn auch darin ähneln sich alle genannten Bücher von Peter Handke: Ihre jeweilige (und von Buch zu Buch immer halsbrecherischere) Erzählkonstruktion ist nur ein Vorwand für ein – von jedem schwer verdaulichen realistischen Erzählstoff weitgehend befreites – Vor-sich-hin-Erzählen, Vor-sich-hin-Räsonieren und Vor-sich-hin-Zaubern. Orte, Namen, Landschaften und Figuren – die gesamte irdische Dekoration verblasst in Peter Handkes Büchern angesichts dieses Willens zum reinen, auch rein absichtslosen Erzählen.
Der Preis dafür ist eine gewisse Unschärfe. Leser und Autor sind derartig mit den nahen Einzelheiten der sogenannten »nebendraußen« liegenden Welt beschäftigt, dass ein umfassendes Bild sich nicht einstellt. Der Karst, das spanische Hochplateau, die balkanische Enklave – die alten Stammgebiete der Bücher Peter Handkes kommen auch in diesem neuen wieder nur in der Miniaturaufnahme ausgesuchter und erlesener Winzigkeiten ins Bild. Ihre Topografie, ihr Zeitkolorit, ihre Eigengeschichte verschwinden im alles sich anverwandelnden Erzählstrom.
»Eine Geographie der Träume« nennt Handke dieses Verfahren, das ihm nur einmal Unglück brachte, als er seine viel bewunderte Geo-Poesie in derWinterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien im Balkankriegsjahr 1996 in den Dienst serbischer Geopolitik stellte. Mit der Morawischen Nacht will er sich von dieser verstörenden Parteinahme verabschieden: »Schuldig gemacht, so noch immer seine Vorstellung, hatte er sich doch, indem er das Nationaldichterspiel, und wenn auch halbherzig, mitspielte, bleibend schuldig. Und warum hatte er mitgespielt? Vielleicht, weil er seinerzeit, für eine kleine Weile, in der Tat an etwas wie eine andere Nation glaubte, überhaupt an grundandere Nationen, und meinte, die mitverkörpern zu können.«
Die Welt ist flach. Alles Schöne ist verschwunden
Die neue Erzählung führt zurück in das während der Serbienreise vor zwölf Jahren gemeinsam mit den Reisegefährten Zlatko und Zarko besuchte serbische Dorf Porodin (100 Kilometer von Belgrad, 16 von Velika Plana entfernt), in dem Zlatkos Eltern, »nah dem Mittserbenfluß Morawa«, einen Weinbauernhof betrieben. Handke gefielen damals der »erztrübe wie klarschmeckende Eigenbauwein« und die »himmelaufweidenden Schafe«.
Der »ehemalige Autor«, Erzähler und Gastgeber in der Morawischen Nacht, lebt seit dieser Zeit in einem Hausboot auf der Morawa nahe Porodin, mitten in Serbien. Das Boot hat er – Ironie des Verzweifelten – mit »der übergroßen Flagge eines längst versunkenen oder abgestunkenen Landes ausstaffiert« und mit deren »ominösen Farben« bemalt. Hier residiert er mit einer ihm ergebenen und angelegentlich verprügelten Gefährtin, die sich, als die Freunde zum »Nachtmahl« erscheinen, »außer später für das stumme Abräumen«, in die Küche zurückzieht – »Überbleibsel der sonst fast verschwundenen balkanischen Sitten« und Ausweis der vormodernen männerbündlerischen Sehnsüchte ihres wie eh und je gegenwartsmüden Bewunderers. Wie so oft bei diesem Autor der wahren Empfindung und der begriffsauflösenden Genauigkeit finden seine Frauengestalten auch in diesem langen Buch aus den abgenutzten Rollenklischees als stumme Schönheit, Dienerin, Quartiermacherin, unschuldige, hingebungsvolle Leserin und »schönes junges Ding« nicht heraus.
Das Wort Serbien, Großserbien oder serbisch sucht man in diesem Buch vergeblich. Nur einmal ist von dem »Hirngespinst« eines »zusammenhängenden großen Landes auf dem Balkan«, dem nur noch drei verlorene Nostalgiker nachhängen, die Rede. Das »versunkene Land« ist nunmehr Teil eines umfassenden Kosmos des Ehemaligen und Verschwundenen geworden. Der »ehemalige Autor« teilt sich diesen Status mit so ziemlich allem, was ihm auf seiner Reise begegnet, den stillgelegten Gehöften in Spanien, den verschwundenen Weinbergen in Serbien, den überwucherten  Obstgärten in Kärnten, dem wie vom Boden verschluckten Fischerdorf auf der Adria-Insel, den verlorenen Bildern (das war schon das große Thema des Romans Der Bildverlust) und den verlorenen Geräuschen (der Geräuschverlust und die »Lärmkrankheit« spielen in diesem Buch eine besondere, auch besonders anrührende Rolle). Einstig und ehemalig ist  die halbe Welt, Opfer der Neuzeit und von deren Verwüstungen.
In der Urschrift seiner Moderne- und Kapitalismuskritik, der Lehre der Sainte-Victoire aus dem Jahr 1980, zitiert Handke den Maler Paul Cézanne mit den prophetischen Worten: Man müsse sich beeilen, wenn man noch etwas sehen wolle. Alles verschwinde. Schon in einigen hundert Jahren werde alles verflacht sein.
Dahin ist man in diesem Buch schon lange vor der geweissagten Zeit gekommen: Die Welt ist flach oder verflacht. Sie ist entzaubert. Sie ist – dieser Analyse widmet Handke im neuen Buch einen langen Abschnitt im mittelmäßig parodierten Zeitungsglossenstil – überall »mittel-europäisch« geworden. Immer wieder nennt der Erzähler sie einfach »leer«. Sie hat keine Tiefe, keine Schönheit und keine »Balkanklarinetten« mehr. Auch keine Märchen. »Oder bestenfalls in Bruchstücken, Märchen, die eine Sekunde dauern« – das jedenfalls legt Handke dem »Zaubermärchenschreiber« Ferdinand Raimund, mit dem sein abgedankter Autor auf der Reise Zwiesprache hält, in den Mund.
Das alles wäre zum Verzweifeln. Wenn es nicht Peter Handke und sein großes vielbändiges Lebenswerk der Wiedergutmachung gäbe. Seine wichtigsten  persönlichen und beruflichen Stationen der Wiedergutmachung werden in dieser nächtlichen Reiseerzählung auf dem Hausboot an der Morawa noch einmal abgeschritten. Die nächtliche Erzählung wird immer wieder unterbrochen von einem kecken »Zwischenfrager« und zeitweilig assistiert von den ehemaligen Reisegefährten, die alle in dieser Nacht zum letzten Abendmahl »gerufen« wurden und am Ende (so hochkomplex und dreimal um die Ecke gedacht geht es zu in märchenloser Zeit) auch die schriftliche Nacherzählung dieser mündlichen Erzählung besorgt haben. Wer hierbei an die Jünger Jesu und das nachträgliche Verfassen der Evangelien denkt, muss nicht ganz falsch liegen.
Bitte nicht noch einen Orakelsprecher, nicht noch ein schaukelndes Kamel!
Alle bekannten Ärgernisse und Freuden des Handkeschen Erzählens der letzten Jahrzehnte begegnen einem in diesem Buch wieder. Das sorgsam inszenierte Stottern, das Verzögern, Fragen, Nachstoßen, die höhere Umstandskrämerei, das selbstironische Dazwischenfahren, die hochfahrenden Ansprachen wie auf dem Literatur-Parteitagsgelände, die stets rechtzeitig ins Possierlich-Abstruse oder Fantastische abbiegen. Aber auch die Strohfeuer der immer noch anheimelnderen Formulierung, der noch runderen Sprachrundung, des noch archaischeren Sprachbildes, die überall im kalkuliert durchgestylten Text wie kleine Kunst-Sprachwärme-Öfchen flackern und Wärme, Geborgenheit und Idylle simulieren, wo es erklärtermaßen nichts mehr zu simulieren gibt. Manche Sprachprovokationen zielen umstandslos ins gutbürgerlich Gediegene, andere ins Ding-Sprachliche und feierlich Naive.
Sympathisch an diesem gezierten Erzählen ist durchweg seine Vielstimmigkeit, Uneinheitlichkeit und Verspieltheit. Das Störrische steht unverbunden neben dem Kitsch, das Parodistische neben dem Pathetischen, die mutwillige Übertreibung neben dem schönen Leichtsinn, das Peinliche neben dem Bezaubernden. Nichts ist mehr ganz und spricht mit einer Stimme – deutlicher, auch kunstvoller kann man diese Verlustanzeige nicht aufgeben.
Die Reise führt per Bus quer durch Serbien zu einem (natürlich verschwundenen) serbischen Friedhof, dann auf die kroatische Insel Cordura (im wahren Leben Krk), wo der Autor seinen ersten Roman (Die Hornissen) verfasst hat. Hier erinnert er sich der alten Zeit, trifft eine ehemalige Geliebte wieder, die inzwischen zur Bettlerin geworden ist. Im spanischen Numancia nimmt er an einem Kongress über die erkrankten und irre gewordenen Geräusche teil (»der Schrei eines Eichelhähers ahmt, scheint es, das Zerreißen einer Alufolie nach«), trifft einen alten Steppenwandergefährten und erinnert sich daran, dort ein zweites Buch geschrieben zu haben.
In Deutschland (»ein friedlicheres Land als dieses sollte er nicht durchwandert haben«) besucht er das Grab seines kaum gekannten Vaters und lässt sich dort von einem in ein altes Weib verzauberten Schmetterling als »verdammter Vaterloser« beschimpfen. In Österreich, wo  er sich über die »ganz ungewohnte Souveränität« freut, die womöglich auf ein neues »drittes Europa« vorausdeutet, freut er sich an der Beschaulichkeit des Kleingärtnerwesens in den Donauauen. Wunderbar sind seine Miniaturen des Vorortlebens: die »Mausefallen auf der Verandabrüstung«, das »Riesenthermometer an der Hauswand, mit fehlender Quecksilbersäule«, der »verwitterte, zerbrochene Pinsel im Staub, mit starrverklebten Borsten«, der »Hackklotz ohne Hacke, zerfranst und zerschlissen wie nur ein Hackklotz«, aus denen sich die Anwesenheit der Bewohner als »Umriß in der grauen Ostwindluft« erahnen lässt. Hier trifft der ehemalige Autor seine ehemaligen Romanfiguren und nimmt an einem »Weltmaultrommeltreffen« in einem ehemaligen »Gasthaus der Namenlosen« teil.
Das alles ist so karnevalesk und traumwandlerisch, dass man sich doch schon wieder in einem dauerhaften und nicht bloß in einem Sekunden-Märchen zu befinden scheint. Doch anders als im echten Märchen, mit seinen grausamen und unbezwingbaren Geboten, ist im Handke-Märchen alles möglich und wie in der Computeranimation vollständig widerstands- und folgenlos. Am Ziel der Reise, dem Kindheitsdorf, hat das blumenkinderhafte Delirieren seinen Höhepunkt. Asiaten, Mongolen und »Muldenheilige« campieren im Bombentrichter des »ehemaligen« Obstgartens, tote Ahnen und ein »ehemaliger« Lehrbeauftragter für Weltliteratur spuken über die »Alte Straße« zum Dorf. Im Keller des Mutterhauses hat sich eine Krypta aufgetan, in der sich die Fernfahrer, die Einheimischen und die muslimischen Zugezogenen zum Gebet versammeln.
Das klingt so furchtbar, wie es ist: Das Wunderbare und das Wunder, die alten Waffen der Literatur gegen den Materialismus und den kurzsichtigen Vernunftglauben, büßen durch einen derartig übermäßigen Gebrauch ihre Kraft ein. Peter Handke mag in seinem schönen Bemühen, die entzauberte Welt wieder zu verzaubern, immer mehr und immer erstaunlichere Märcheneffekte aufeinandertürmen – durch die bloße Steigerung und endlose Addition dieser Effekte stellen sich die erwünschte Himmelfahrt und die auch in diesem Buch vielfach beschworene »Entrückung« nicht ein. Eher Langeweile und ein gewisser Märchenüberdruss. Bitte jetzt nicht noch eine herumspukende Großmutter, nicht noch einen herbeiflatternden Orakelsprecher, nicht noch ein vorbeischaukelndes Kamel!
Vor lauter Budenzauber übersieht man dann leicht das Herzstück dieser Erzählung: die Rede der toten Mutter im Traum. Sie spricht ihren verlorenen Sohn los von jeder Schuld, nicht zuletzt von der an ihrem Tod (Handkes Mutter hat im Jahr 1971 Selbstmord begangen), und bittet um Erbarmen, »genug der Selbstmarter und des Marterns der anderen«. Befreit von der Last der toten Mutter, befreit von der Last des Nationaldichtertums und der Liebe (für die er sich allerdings noch nie besonders interessiert hat), befreit von allem, kehrt der abgedankte Autor nach Hause zurück, wo er nichts und niemanden mehr vorfindet. Der Autor ist, was er schon immer war: mit sich allein.
Eine lange Reise zu sich selbst liegt hinter ihm. Wir haben allen Grund anzunehmen, dass es ihm danach gut geht. Auf den letzten Seiten sehen wir ihn friedlich, von herbeieilendem Himmelsgeflügel umflattert. Sicherlich schreibt er schon wieder. Immer weiter an diesem endlosen Buch seiner selbst, das jetzt nur vorübergehend von der Bildfläche verschwindet.
Mailen | Drucken | Merkzettel | Empfehlen auf Facebook | Twittern | Share on Google+ Das Serbien Peter Handkes gibt es nicht. Es existiert auch nicht auf dem Papier. Wenn das neue Buch dieses Autors über weite Strecken den Fluss  Morawa beschreibt und ein Städtchen namens Porodin, dann meint das etwas anderes als das, was man auf der Landkarte finden kann. Der Balkan ist für Handke ein Zustand. 

Die Hauptfigur, sie wird meistens als "ehemaliger Autor" bezeichnet, lädt ein paar Freunde auf sein Hausboot am Ufer der Morawa ein. Der Gastgeber ist von einer langen Rundreise durch Europa zurückgekommen und hat vor, während der ganzen Nacht davon zu erzählen. Man merkt recht schnell, dass es sich hier nicht um eine "realistische" Erzählung handelt. Hier schreibt Handke, in verspielter, selbstironischer und manchmal auch inniger Form, über sich selbst. Sogar seine immer wiederkehrenden  jähzornigen Ausbrüche erscheinen milde in die Literatur überführt.

Als der "ehemalige Autor" aus seiner Enklave am Ufer der Morawa aufbricht, assoziiert der Leser unwillkürlich einen von Serben bewohnten und von internationalen Schutztruppen kontrollierten Teil des Kosovo: die Busfahrt durch feindliches Gelände, die Steine, die von Kindern geworfen werden und die Glasscheiben des Busses mit lauter kleinen Splitternetzen durchziehen - das Wort "Kosovo" fällt aber nicht, es gibt keine direkte politische Wiedererkennbarkeit.

Viel suggestiver und nachhaltiger ist die blasse, blauweißrote Schrift auf dem blassen Gelb des Busses, die aus einer vergessenen Vergangenheit herüberragt und dadurch per se eine literarische Fiktion darstellt, viel mehr als der konkret vergangene Vielvölkerstaat Jugoslawien. Und die Vorstellung der "Enklave" entspricht auch auffällig genau den ästhetischen Vorlieben des Autors Peter Handke, seiner Rede von "Zwischenräumen", die nicht von außen zu definieren sind und sich einer allzu eindeutigen Funktionszuweisung entziehen.

Von "Jugoslawien" ist nirgends die Rede, das magische Beschwörungswort heißt "Balkan". Und was das Magische daran ausmacht, wird auf der ersten Station der Rundreise deutlich: eine dalmatische Insel, die der Autor als Sechzehnjähriger während seiner ersten Reise aufsuchte und auf der er seinen ersten Roman und seine erste Geliebte fand. Der "ehemalige Autor" hat, wie in dieser Szene, viele Berührungspunkte mit der Biographie des Schriftstellers Peter Handke.

Numancia in der spanischen Steppe, die nächste Station, spielt vor allem im "Versuch über die Jukebox" von 1991 eine zentrale Rolle. Der Autor begegnet im Folgenden auch Figuren und früheren Alter Egos Peter Handkes: Filip Kobal aus der "Wiederholung" und Gregor Keuschnig aus der "Stunde der wahren Empfindung". Es sind abgründige Witze, die sich der Autor wie bei einem Kinderspiel leistet. Und manchmal, wie bei einem trotzigen kleinen Jungen, stampft er auch wütend mit dem Fuß auf.

"Die morawische Nacht" ist ein vorläufiges Resümee des Autors Handke, das man nicht zu ernst und nicht zu leicht nehmen sollte. Er umkreist von neuem seinen poetischen Raum. Dazu gehören Verstiegenheiten, kunstvoll arrangierte Verrücktheiten und trotzige Verweigerung, aber es ist ein Spiel, bei dem, obwohl man auf alles gefasst zu sein scheint, wieder wie nebenbei ungeahnte Entdeckungen zu machen sind, Hummelflügel beispielsweise, Maultrommelspieler und die wilde Trauer von Samarkand.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Peter Handke: Die morawische Nacht
Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
560 Seiten. 28 Euro.
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Die morawische Nacht

von
Peter Handke
Ein ehemaliger Autor (!) lädt Freunde und Weggefährten auf sein Hausboot ein, es hat den symbolträchtigen Namen „Die morawische Nacht“. Eine geschlagene Nacht lang unterhält er sie dort, er erzählt die Geschichte seiner letzten Reise durch Europa. Wer hier eine Irrfahrt vermutet, liegt nicht falsch. Autobiographische Stationen und symbolträchtige Orte liegen reichlich auf dem Weg, das Maultrommlertreffen in Salzburg oder ein Lärmkongress im spanischen Numancia sind vereinzelte Höhepunkte.
Eine Autobiografie als Irrfahrt also, und mit dem Hausboot verirrt sich das Erzählen. Still und genügsam treibt es auf dem Fluss Morawa dahin, das Hausboot des ehemaligen Autors. Dieser bietet seinen Zuhörern gleichwohl nichts weniger als die Summe seines Lebens (als Reisebericht). Eine prekäre Summe ist es, fast aufgebraucht von den Banalitäten der Welt. Kein Wunder, er selbst hat als Autor das Verstummen gewählt.
Ein epischer Charakter von erschreckenden Ausmaßen
Weit ausschweifend, von einer tastenden Sprache auf zahlreiche Nebengleise geführt, so erlebt der Leser den ehemaligen Autor in seinem Element. Kein Prosaschreiber muss er gewesen sein, vielmehr ein epischer Charakter von erschreckenden Ausmaßen. Einer, der sich zuletzt in der reinen Mündlichkeit? ergeht. Vor Worten sprudelt er in dieser Nacht über, wie ein echter Marathonerzähler. Man sollte sich also nicht täuschen lassen, Peter Handkes neue Erzählungpräsentiert einen weltabgewandten Flaneur in allerbester Parlierlaune. Und gescheitert ist dieser ehemalige Autor noch lange nicht, auch wenn die Freunde und Weggefährten allmählich unruhig werden.
Doch über diesen Rubikon müssen sie nun einmal alle gehen. Die vorgebliche Ereignisleere ist bei Peter Handke immer die Kehrseite, auf der anderen Seite steht eine feiernd genau beobachtete Welt. So feiernd genau beobachtet, dass sie sich in ihre Einzelmomente auflöst. Ja, vor der Flut dieser Momente kann sich keiner auf dem Hausboot schützen.
Eine grandiose Heiterkeit
Eine grandiose Heiterkeit liegt über dieser Erzählnacht, weil der ehemalige Autor seine Zuhörer offensichtlich zum Narren hält. Wieder sind sie gekommen, um eine große Geschichte zu hören. Wieder speist er sie mit Einzelmomenten ab. „Die morawische Nacht“ ist unbedingt nicht ernst zu nehmen, nein. Keine Publikumsbeschimpfung ist das, aber eine lustvolle Publikumsunterlaufung.
Bei aller Narretei darf man nicht vergessen: In Peter Handkes? neuer Erzählung geht es wieder einmal um das ganze Erzählen, und das ist schon großartig verwegen genug.
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Leben wie im Traum – Handkes Balkan-Monolog „Die morawische Nacht“

Am 6. Dezember 2007 wurde der österreichische Autor 65 Jahre alt

© Die Berliner Literaturkritik, 24.01.08

Von Miriam Bandar
FRANKFURT AM MAIN (BLK) – Wer kennt nicht das Gefühl, aus einem unruhigen Traum zu erwachen, in dem Freunde und Verwandte an realen Orten auftraten? In der Nachtgeschichte ergibt alles einen Sinn, doch nach dem Aufwachen bekommt man den Erzählstrang kaum noch zusammen. Menschen und Orte wirken plötzlich seltsam entfernt, dabei kamen sie einem eben noch so echt vor. Dieses Gefühl stellt sich auch bei Peter Handkes mehr als 550 Seiten umfassender Erzählung „Die morawische Nacht“ ein, die zum 65. Geburtstag (6. Dezember 2007) des ehemaligen jungen Wilden der Literaturszene erschienen ist. Darin streift Handke etliche Stationen seiner Vergangenheit. Es ist jedoch keine Biografie entstanden, sondern ein Leben wie im Traum.
Für die Rückschau hat ein alternder Autor sieben Freunde auf sein Haus- und Hotelboot gebeten. Es ist auf der Morawa, einem Nebenfluss der Donau auf dem Balkan, vertäut. Ein Hotel, dessen Name „Morawische Nacht“ in Leuchtschrift weithin zu lesen ist. Doch Zugang erhalten nur geladene Gäste. In einem fast endlos erscheinenden Monolog erzählt der Schriftsteller über seinen Werdegang. Dabei sind die Verbindungen zu Handkes Leben nicht zu übersehen: Angefangen von der kroatischen Insel Krk, auf der sich der gebürtige Österreicher verliebte und seinen ersten Roman „Die Hornissen“ verfasste, über die Heimat seines leiblichen Vaters im deutschen Harz bis hin zu seinem Kärntner Geburtshaus.
Bei der handlungsarmen, traumwandlerischen Erzählung spart der Einzelgänger Handke auch dunkle Kapitel seines Lebens nicht aus, etwa sein schwieriges Verhältnis zu Frauen, wo es auch zu Gewaltausbrüchen gekommen sein soll. Er war unter anderem mit den Schauspielerinnen Jeanne Moreau und Katja Flint liiert. Im Buch erzählt der Autor: „Aber schon hatte er sich auf sie gestürzt und auf sie eingeschlagen, einmal bloß, bloß?, so stark, daß sie stracks zu Boden fiel.“ Er lässt sie liegen, getrieben von einer Gefühlsmischung aus schlechtem Gewissen und Heldenmut.
Trotz eines zuweilen für Handke ungewöhnlich ironischen Tons, erinnert die „Morawische Nacht“ als lange Reise zu sich selbst an einigen Stellen an eine Lebensbeichte. Passend zu seinem 65. Geburtstag scheint Handke literarisch bei seinem Spätwerk angekommen. Der Österreichischen Nationalbibliothek verkaufte er kürzlich einen großen Teil seines Nachlasses zu Lebzeiten wie handschriftliche Werkmanuskripte und Notizen, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar erhielt seine Tagebücher.
In einem Interview im vergangenen Sommer (2007) urteilte der einstige Literaturrebell über das Alter: „Ja man fühlt sich … Wie heißt das? Befristet. Das Alter macht doch zunehmend Bedenken. Ich weiß nicht, ob das so heiter wird, wie ich es mir vorgestellt habe.“ Ist das Leben ein Traum oder sind Träume das wirkliche Leben? In Handkes jüngstem Buch heißt es: „Zeit seines Lebens hatte der Autor über Nacht an einem Buch geschrieben. Und über Nacht auch hatte er es jeweils beendet. Bloß war das Buch dann am Morgen nicht mehr da.“ Die „Morawische Nacht“ allerdings ist nun wirklich erschienen.
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